Sie sind hier:

Interview mit Corinna Flentge zur LLQ-Programmschiene Ältere Menschen im Quartier - Präventive Hausbesuche

In der Ausgabe Juli 2022 der Zeitschrift "Durchblick - Für Seniorinnen und Senioren" der Seniorenvertretung Bremen gab Corinna Flentge ein ausführliches Interview zum aktuellen Sachstand der Projektschiene "Präventive Hausbesuche". Wir geben hier die vollständige Version des Interviews wieder, die auch am 21.06.2022 auf der Website des Seniorenlotsen erschien:

„Aufsuchende Altenarbeit“

Frau Flentge arbeitet bei der Senatorin für Soziales, Jugend, Integration und Sport
im Ref. 34, Soziale Stadtentwicklung

Frau Flentge wurde von Michael Breidbach interviewt

Interviewer: Was ist die Idee von aufsuchender Altenarbeit und für wen machen Sie das?

Corinna Flentge: Mit diesen Besuchs- und Begleitdiensten wollen wir ältere Menschen, die zuhause leben und wenig soziale Kontakte haben, unterstützen. Unter dem Dach des Sozialressorts ist im Referat soziale Stadtentwicklung die sogenannte offene Altenarbeit angesiedelt. In der offenen Altenhilfe haben wir diejenigen älteren Menschen im Blick, die noch alleine selbstbestimmt zuhause leben können und dabei aber die eine oder andere Unterstützung benötigen. Da geht es um die Menschen in der Zielgruppe ab 65 Jahren, manchmal fängt es aber auch schon früher an.

Die älteren Menschen machen bald rund ein Drittel der Gesellschaft aus. Das ist eine große Anzahl. Die Meisten von ihnen sind noch fit. Viele sind aktiv in ihren Familien oder der Gesellschaft eingebunden und üben zum Beispiel auch ein Ehrenamt aus. Aber es gibt eben auch viele Bremer und Bremerinnen, die einsam sind, isoliert leben und die eine Form von Teilhabe und Unterstützung brauchen. Mit der aufsuchenden Altenarbeit suchen wir Zugangswege zu diesen Menschen, damit sie von unseren Angeboten erfahren und sie dann auch in Anspruch nehmen können.

Dabei wollen wir aufmerksam hinschauen und differenziert auf die sogenannten Bedarfslagen eingehen. Das fängt bereits bei den Begrifflichkeiten an. Während wir bei den Jüngeren, vom Säugling, über Krabbel-, Kindergarten-, Grundschulkind bis hin zum Teenager, viele unterschiedliche Begriffe verwenden, gibt es diese Differenzierung den Älteren nicht. Hier verwendet unser Sprachgebrauch nur eine Gruppe, die der „älteren Menschen“, vielleicht noch „Hochaltrige“. Deshalb wollen wir gemeinsam mit dem älteren Menschen, so er denn Unterstützung möchte, nach seinen ganz individuellen Bedürfnissen und Wünschen schauen, um dann zu prüfen, welche Möglichkeiten sich dafür im Quartier im unmittelbaren Umfeld anbieten.

I: Die Senatorin für Soziales hat verschiedene aufsuchende Angebote hörte ich?

CF: Zum einen gibt es die aufsuchende Altenarbeit mit acht Standorten in Bremens Quartieren. Nach einem Erstgespräch der Koordinatorin mit den älteren Menschen werden Tandems gebildet. Das heißt, ein Aufsuchender wird mit einer zu besuchenden Person gepaart, so sie sich denn sympathisch sind und miteinander Zeit für Begegnung, Begleitung und Beratung verbringen möchten. Darüber kann zum Beispiel eine Begleitung zum Impfzentrum stattfinden. Beide können auch in der Häuslichkeit bleiben, wenn die Mobilität nicht mehr gegeben ist. Oder sie gehen zusammen einkaufen oder ins Theater. Das richtet sich immer danach, welche Bedürfnisse und Wünsche der- oder diejenige hat. Ganz wichtig ist, dass der Wille des älteren Menschen im Mittelpunkt unseres Tuns steht. Wenn wir zum Beispiel der Meinung wären, ein Besuch in einem Begegnungszentrum wäre förderlich gegen Einsamkeit, muss das ja noch lange nicht der Wunsch der besuchten Person sein.

Ergänzend dazu arbeiten wir gerade an der Weiterentwicklung der aufsuchenden Altenarbeit und der Einführung der Präventiven Hausbesuche.

I: Was genau planen Sie jetzt bei den präventiven Hausbesuchen?

CF: Sie werden deutschlandweit schon in vielen Städten durchgeführt und Bremen möchte jetzt gern mit einem Modellprojekt starten. Es wird ein Gratulationsschreiben geben zum 75sten Geburtstag, im Rahmen dessen schlagen wir in Bremen und Bremerhaven vor, wir kommen von der Stadt, also dem Amt, mal zu einem Besuch. Die Geburtstagsjubilare können dieses Angebot natürlich absagen.

Mit diesen Briefen hoffen wir, einen neuen ergänzenden Zugangsweg zu finden, weil wir uns immer wieder fragen, wie erfahren die älteren Menschen von den vielen Möglichkeiten in Bremen? Wie erreichen wir Bremer und Bremerinnen, die Unterstützung brauchen? Die jetzt auch während der Corona-Zeit vielleicht einmal in der Woche zum Supermarkt gegangen sind und die dann wieder still und leise nach Hause gegangen sind. Es gibt Schnellkassen in den Supermärkten, aber keine Langsamkassen für Ältere Menschen z.B. für einen Klönschnack oder eine angenehme Bezahl-/Einpacksituation. Solche Defizite im täglichen Leben möchten wir an anderer Stelle ausgleichen, den älteren Menschen stärken und mit ihm gemeinsam Lösungen suchen.

Es gibt in Bremens Quartieren – oft direkt vor der Haustür – viele Angebote für ältere Menschen, die nicht jedem bekannt sind. Erreichbare Angebote wie die Begegnungszentren mit interessanten Programmen, ein günstiger Mittagstisch, Tagesfahrten oder Seniorenreisen. Wichtig ist uns, dass es kleinräumige soziale Angebote in ihren Quartieren gibt, damit die älteren Menschen nicht alle hier zum Seniorenbüro am Hauptbahnhof unter die Hochstraße fahren müssen. Deshalb schauen wir, dass wir mit sozialer Infrastruktur gut in den unterschiedlichen Quartieren Bremens aufgestellt sind, um die Lebensbedingungen zu verbessen. Diese soziale Stadtentwicklung gepaart mit der konkreten Unterstützung der Menschen durch präventive Hausbesuche stärkt wiederum langfristig den sozialen Zusammenhalt.

I: Haben Sie einen Zeitplan, wann Sie mit den Besuchen starten möchten?

Wir haben den Auftrag aus dem Senat bekommen, ein Konzept zu schreiben und die Grundlagen zur Einführung zu schaffen. Wir planen die ersten Besuche in Modellregionen in Bremen und Bremerhaven im Verlauf des 4. Quartals dieses Jahres.

I: Bekommen alle älteren Menschen einen Hausbesuch?

CF: Nur die, die möchten und die im ersten Schritt in unserer Modellerprobung unser Schreiben zu ihrem Geburtstagsjubiläum erhalten. Wer sich darüber hinaus einen Besuch wünscht, um zu schauen, wie seine Lebenssituation verbessert werden kann, ist herzlich eingeladen, sich bei uns zu melden. Einsamkeit, Isolation, Altersarmut, Themen wie Mobilität, Wohnen, Gesundheit beschäftigen viele ältere Menschen und sie wissen allein oft nicht, wie etwas zu ändern wäre. Unser aller Ziel ist es, möglichst lange ein zufriedenes und selbstbestimmtes Leben im eigenen Zuhause zu ermöglichen.

I: Wie läuft so ein Besuch genau ab?

CF: In dem Gratulationsschreiben steht bereits ein konkretes Datum. Der oder die Angeschriebene kann das natürlich absagen. Wenn aber das Angebot angenommen werden möchte, dann kommen wir gerne und führen ganz behutsam ein Gespräch. Bei dem Besuch kann selbstverständlich eine Vertrauensperson aus dem eigenen Umfeld anwesend sein. Und natürlich muss das Gespräch auch nicht Zuhause stattfinden, da finden wir einen anderen angenehmeren Ort, wenn dies der Wunsch ist. Auf Wunsch ist das Gespräch auch digital über eine Videokonferenz möglich. Da wir eng mit der Polizei zusammenarbeiten, um jede Form des Missbrauchs zu vermeiden, haben wir umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen wie zum Beispiel ein Kennwort, Fotos, Ausweise, Führungszeugnis eingeplant.

Den genauen Ablauf des Besuchs gibt uns ein Fragebogen vor. Diesen erarbeiten wir gerade mit wissenschaftlicher Begleitung. Wir schauen uns die Fragebögen deutschlandweit an, was läuft gut, was läuft nicht gut und was passt davon auf Bremen. Menschen haben ganz individuelle Bedürfnisse und unterschiedliche Lebenssituationen. Es kann sein, dass wir auf Notsituationen treffen, wie ein dringender Pflegebedarf oder seelische Not durch Vereinsamung. Vielleicht mag uns der- oder diejenige aber auch gar nicht rein lassen. Es kann auch sein, dass uns beim Klingeln an der Haustür gesagt wird „schön, das ihr kommt, ich habe vergessen abzusagen, ich habe zwei Ehrenämter, Weihnachten fahre ich immer golfen nach Mallorca, da steht mein Auto vor der Tür, ich brauche euch überhaupt nicht.“ Wunderbar!

Aber wenn zum Beispiel Pflegebedarf besteht, stellen wir Kontakt zum Pflegestützpunkt her oder es kann selbst Kontakt aufgenommen werden. Oder wird Hilfe zur Leistungsbeantragung gebraucht? Es kann auch ein Finanzierungsproblem sein, dass die Rente nicht reicht. Oder der Betroffene möchte schon lange umziehen und weiß nicht wie. Es kann auch einfach der Wunsch nach Teilhabe bestehen: „Ach, ihr habt ein Begegnungszentrum, wo ist denn das nächste“. Oder: „Es gibt aufsuchende Altenarbeit ja gerne, ich hätte gerne jemanden, mit dem ich Kontakt aufnehme“. Da entstehen ganz tolle, langjährige Bekanntschaften. Das Allerwichtigste ist uns allen, die wir für und mit älteren Menschen arbeiten, ihnen solange wie möglich die Erhaltung der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen. Wir kennen die Probleme in der Pflege, und die werden in der Zukunft mehr.

I: Ja, aber das ist gar nicht so einfach, überhaupt diesen Erstkontakt herzustellen.

CF: Gleichzeitig scheint diese aktive Ansprache über ein erstes Gratulationsschreiben nach Hause, das in Ruhe gelesen werden kann, ein guter Weg zu sein, einsame Menschen anzusprechen. Die Erfahrungen aus den anderen Städten sind sehr gut. Wir sind auch im Gespräch mit den Krankenkassen, die diese Ansprache befürworten. Wichtig ist uns allen, die älteren Menschen möglichst lange selbständig und zufrieden in ihrem eigenen Zuhause zu unterstützen.

I: In meinem Gespräch mit Prof. Dr. Görres gab es auch so einen Ansatzpunkt. Da gibt es so eine Idee, Menschen dazu anzuleiten über ihre Gesundheit nachzudenken. „Damit ich möglichst lange gesund bleibe und auch zuhause leben kann“. Gibt es denn da einen Austausch?

CF: Ja, auch sind wir im Gespräch mit dem Gesundheitscampus um Dr. Görres sowie der Universität Bremen und Apollon Hochschule. Eine der Doktorandenstellen im Programm „Gesunde Stadt“ wird sich mit präventiven Hausbesuchen befassen und bei uns eingebunden werden.

I: Das klingt ja schon sehr gut.

CF: Aber die älteren Menschen brauchen Sicherheit und Vertrauen, so dass sie uns zu einem Gespräch in ihr Zuhause lassen.

I: Ja, das ist wohl die erste Hürde.

CF: Da bauen wir zum einen auf die guten Erfahrungen aus den anderen Städten, wie z.B. Hamburg. Dort war es manchmal viel leichter, als vorher gedacht. Und zum anderen berücksichtigen wir sorgfältig alle Auflagen des Datenschutzes und führen wie gesagt Gespräche mit der Polizei Bremen, um den älteren Menschen größtmögliche Sicherheit für unseren Besuch zu bieten. Da stimmen wir uns ganz eng ab.

Die Besuchenden werden intensiv geschult und werden detaillierte Kenntnisse auch über das Quartier haben. Wo ist der nächste günstige Mittagstisch, wo ein Fahrdienst oder welche Quartiers- oder Gesundheitsangebote gibt es. Vielleicht ist der Besuch sehr schnell vorbei, weil es reicht, Kontakte herzustellen, vielleicht braucht es aber auch mehr, um ein Unterstützungsnetz zu schaffen.

I: Die Frage ist ja, wie geht die Vernetzung, es gibt ja auch andere Beispiele wie Digitalambulanzen. Man braucht Interessenten für solche Aufgaben.

CF: Das Netzwerk der Digitalambulanzen ist ein hervorragendes Beispiel für Vernetzung. Um den älteren Menschen den Umgang mit Handy und Tablet oder dem Internetbanking zu erleichtern, haben sich durch Begleitung der Sozialsenatorin Vereine, Träger, Institutionen in den Quartieren zusammengeschlossen, die Kontakt zu älteren Menschen haben. Vereint ermöglichen sie älteren Menschen den Einstieg in die Digitalisierung. Digitale Teilhabe ist heute eine Form von sozialer Teilhabe.

Grundsätzlich sind die bremischen Einrichtungen in der offenen Altenhilfe sehr gut vernetzt und sehr aktiv. In sozialen Arbeitskreisen oder auch über die Quartiersmanager kommen sie zusammen und arbeiten gemeinsam an Verbesserungen für die Menschen.

Und ja, Sie haben völlig Recht, es braucht Interessenten für diese Angebote. Genau deswegen wollen wir ja gezielter informieren. Es braucht aber auch unbedingt das Ehrenamt in dem Unterstützungsnetz für ältere Menschen. Dieses kann auch ein echtes Geschenk sein, wenn jemand selbst ein Ehrenamt ausüben möchte und noch keine Unterstützung darüber benötigt. Da erleben wir immer wieder wertvolle Beispiele, in denen ein Ehrenamt durch Kontakte und Sinnerfüllung dem Leben einen ganz neuen Mittelpunkt gibt. Das Ehrenamt stärken wir zum Beispiel über das Förderprogramm „Lebendige Quartiere“.

I: Es ist auch so, dass der eine oder andere ganz froh ist, wenn er, sie so eine Aufgabe hat.

CF: Beim Ehrenamt heißt es ja immer, es habe eine dreiteilige Funktion: Es hilft demjenigen, der das Ehrenamt ausführt, demjenigen dem es zugutekommt und es stärkt die Gesellschaft. Zunehmend wird aktuell die Idee diskutiert, bei Eintritt in das Rentenalter sich gesellschaftlich zu engagieren und ein Ehrenamt zu übernehmen. Man kann grob sagen, dass ein Drittel schon ein Ehrenamt hat, ein Drittel lässt sich dafür nicht begeistern und ein Drittel wäre offen dafür. Wir beobachten, dass das Ausüben eines Ehrenamts hilft, nicht in das berüchtigte Loch zu fallen, wenn die Kontakte und geregelten Tagesabläufe plötzlich wegfallen. Diese Menschen könnten wir in einem Gespräch beim präventiven Hausbesuch vielleicht für ein ehrenamtliches Engagement mit wertvollen Kontakten und Aufgaben begeistern. Zum Beispiel mit Kindern gemeinsam zu lesen, es gibt ja so vielfältige Möglichkeiten.

I: Da gibt es ja auch Angebote von den Krankenkassen zur Gestaltung dieses Überganges, damit man nicht in dieses Loch fällt.

CF: Mit den Kranken- und Pflegekassen stehen wir zu unterschiedlichsten Themen im regelmäßigen Austausch in unserem Haus. Für die präventiven Hausbesuche prüfen sie gerade sehr kooperativ, inwieweit sie durch den Präventionscharakter der Hausbesuche unterstützen und die älteren Menschen stärken können.

I: Es gibt ja auch eine ganze Reihe von Migrantenorganisationen, mit denen kann man doch zusammenarbeiten. Es müsste doch möglich sein, dort Menschen zu gewinnen, die die Sprache auch beherrschen.

CF: Da ist Bremen schon ganz gut aufgestellt und die Akteure werden wir auch mit einbinden. Unter Umständen zeigt sich vielleicht in der Modellphase, dass das genau dies die Zielgruppe ist, die wir bisher am wenigsten erreichen und gleichzeitig am meisten Unterstützung benötigt.

I: Vielen muss man wahrscheinlich erst mal erklären, was das Ganze für einen Zweck hat. Die Besuchenden müssen also genaue Kenntnisse über das Quartier haben. Wo ist der Friseur, der Arzt, die Krankengymnastik, wo fährt der Bus? Welche sozialen Angebote gibt es und welche Gesundheitsmaßnahmen? Vielleicht reicht die Information. Vielleicht braucht es aber auch mehr.

CF: Ja, genau an diesen Punkten arbeiten wir gerade alle mit viel Herzblut. Unserer Senatorin und dem Sozialressort sind die älteren Menschen in Bremen sehr wichtig. Wir hoffen bei erfolgreichem Modellprojektverlauf, dass wir die Geburtstagsbriefe dann von einzelnen Stadtteilen in Bremen und Bremerhaven auf ganz Bremen ausweiten können.

I: Das wollen wir als Seniorenvertretung natürlich auch unterstützen.

CF: Ich komme dann gerne wieder in die Seniorenvertretung, dort können wir das diskutieren.